Die Gnaden
Ein Teil unseres Engagements im Waldkloster ist es, uns mit spirituellen Traditionen zu beschäftigen, Ausschau zu halten, welche Perlen es dort zu finden gibt.
Eine der interessantesten und stärksten Überlieferungen ist die Beschreibung der Gnaden. Mystiker der Vergangenheit und der Gegenwart haben sich damit beschäftigt. Auch wir im Waldkloster haben versucht, sie für uns in Worte zu fassen, und mit unseren Prozessen zu verbinden beziehungsweise sie dort zu verorten.
Die Auseinandersetzung mit den Gnaden ist für uns eine Entdeckung geworden. Sie hat uns Orientierung auf den verschiedenen Erfahrungsebenen des menschlichen Seins gebracht. Zudem sind die Gnaden auch Türen geworden - für ein erweitertes spirituelles Verständnis, in dem Göttlichkeit in intimer, organischer Art und Weise erlebbar ist.
Wir haben das Wort Gnade, die Gnaden vollkommen neu verstehen lernen müssen:
Es ist wie eine kosmische Kraft, die in uns hineinströmt, die Bestimmung vermittelt und die jeden Zweifel ausräumt.
Gnaden können in unterschiedlichen Qualitäten und Konzentrationen erlebt werden. Welcher Art haben wir unten in einer Aufstellung zu beschreiben versucht.
Eines ist aber klar - Wenn wir Gnaden erfahren, fühlt sich das wie ein Wunder an. Wir erleben sie leicht, lichtvoll und hilfreich - meist unvorhersehbar, aber immer im richtigen Moment - sie erfrischen und stärken unser Sein.
Es scheint als wären sie in einem intelligenten, holographischen System organisiert. Ein System, das weiss, wann - wer - wo im richtigen Moment Hilfe braucht beziehungsweise Hilfe geben kann - die Intelligenz des richtigen Zeitpunkts besitzt.
Die Gnaden folgen nicht der menschlichen Logik und sind in ihrer Gesamtheit nicht zu ergründen. Dies zeigt sich darin, dass sie von spirituellen Persönlichkeiten und Traditionen in unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen und Akzenten, sowie poetisch in Bildern beschrieben werden. Auch der Volksmund kennt Beschreibungen dieses Phänomens: "Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, da kommt irgendwo ein Lichtlein her" oder "Der Mensch denkt - Gott lenkt" sind Beispiele dafür.
Wenn Gnade fliesst, merk man sofort, dass etwas Höheres - eine göttliche Hinwendung - im Spiel ist. Die Gnaden machen aus den unpersönlichen kosmischen Gesetzmässigkeiten eine intime persönliche Erfahrung.
Damit wir uns für die Gnaden öffnen können, bedarf es gewissermassen eines "Logins", der eine lichtvolle Intention verkörpert. Dies können Akte des Mitgefühls und der Gerechtigkeit sein; Achtsamkeit, Wahrhaftigkeit sowie Gebet und Meditation.
Nachfolgend beschreiben wir unseren Zugang zu den Gnaden.
Ja zum Leben
Das Leben als Gesamtheit ist ein Organismus mit einer unglaublichen Fülle und Möglichkeiten. Trotzdem erleben wir zuweilen Phasen, wo wir von unserer Lebendigkeit abgeschnitten sind. Diese Erlebnisse des Abgeschnittenseins führen dazu, dass wir uns zu wenig genährt fühlen, dass uns etwas vorenthalten wurde. So laufen wir mit einem Minusgefühl durchs Leben und warten auf einen Ausgleich. Jene, die sich dieses Mangels bewusst sind, merken, wie schwierig es ist, dieses Energiedefizit auszugleichen. Oft gelingt uns das nur auf Kosten der Mitwesen: Wir stecken in der Vergangenheit, können nicht verzeihen, treffen egozentrische Entscheidungen.
Die Gnade hilft unser Innerstes mit dem Leben rückzuverbinden. Sie hilft uns im Auf und Ab Achtung und ein Ja zum Leben zu bewahren. Jeder der einen Schmerz oder Schuld ablegen konnte, weiss, wie befreiend es ist, wenn die Energien wieder ins Fliesen kommen.
Wir, im Waldkloster, öffnen uns dieser Gnade, indem wir einander willkommen heissen - jenseits von Scheitern und Erfolg. Wir helfen einander die Angst nicht zugehörig zu sein, abzulegen und Vertrauen zu uns selbst, zum Bruder und in die Gemeinschaft zu fassen.
Güte und Hingabe
Mit jeder Beziehung bieten wir dieser Gnade die Möglichkeit, sich zu manifestieren. Es scheint als würde diese Gnade jene Form annehmen, die es in Beziehungssituationen gerade braucht. Sie ist wie ein Fluidum mit vielen Gesichtern: Geduld, ein Moment der Besonnenheit, eine Hand, die gereicht wird, eine innere Stimme, ein Bauchgefühl, eine Priese erfrischenden Humor im richtigen Moment.
Die Gnade passt sich im Zwischenmenschlichen laufend an. Sie spricht immer die Sprache der Menschen. Wie und in welcher Konzentration die Gnade in unser Tun einfliesst, hängt von unseren Absichten und Entscheidungen ab.
Die Beziehungsintention im Waldkloster beinhaltet die Achtung vor unseren Lebensprozessen. Mit liebevoller Konfrontation bringen wir Licht und Ordnung in innere Widersprüche und zwischenmenschliche Ungereimtheiten.
Verstehen - die Unterscheidung der Geister
Unser Energiesystem wird beständig darüber informiert, ob etwas zu- oder abträglich ist. Achten wird diese Information, nehmen wir sie ernst, stärken wir unsere Selbstachtung und schaffen zudem Klärung. So können wir beispielsweise verinnerlichte Bezugspersonen von unserer eigenen Wesensart unterscheiden und äussere Begebenheiten adäquater beurteilen.
Im Waldkloster teilen wir unsere intuitiven Wahrnehmungen laufend mit. In den Auseinandersetzungen mit unseren Mitbrüdern unterscheiden wir jenes was unser eigen ist von dem was zum Wesen des Bruders gehört.
Intuition ist die Tür, durch welche diese Gnade einfließt. Durch ihren erhellenden Charakter hilft sie uns hinauszutreten über das, was wir auch über uns zu glauben meinen. Sie gibt Raum und schafft Präsenz.
Tapferkeit des Herzens
Die individuelle Freiheit ist eines der grossen Geschenke unserer demokratischen Gesellschaft. Gleichzeitig überträgt uns diese Freiheit ein grosses Mass an Selbstverantwortung. Auch mit dem Verblassen der traditionellen Religionen fällt eine moralische Instanz, beziehungsweise Struktur der Selbstkonfrontation weg. Darüber hinaus scheint ein Gegentrend erkennbar zu sein, dass es nicht mehr verwerflich ist, jemanden zu täuschen. Nicht wahrhaftig zu sein scheint keine moralische Verfehlung mehr in unserer Kultur zu sein. Image vorzutäuschen ist ein Erfolgskriterium geworden.
So sind die Schwierigkeiten der Seelenarbeit heute weniger im Äusseren denn im Inneren zu finden, bedarf es doch ein grosses Mass an Wahrhaftigkeit und Disziplin, den eigenen Schatten zu konfrontieren. Für Schattenarbeit braucht es ein hohes Mass an Rückgrat und Durchhaltevermögen. All diese Eigenschaften werden den klassischen Helden zugeordnet und mit mit Mut und Tapferkeit umschrieben. Um sich der Gnade der Tapferkeit zu öffnen, braucht es ein offenes Herz. Ein bitteres und stolzes Herz wird wohl kaum Zugang zu dieser Gnade finden.
Logins sind Demut, gerechte Rede, Wahrhaftigkeit. Die Gnade der Tapferkeit versorgt uns mit einem Herzbrennstoff, so dass wir unsere Angst, unser Herz könnte ausbluten, ablegen können. Sie hilft uns unsere Herzen zu uns selbst und der Welt gegenüber offen zu halten. Mit dem Herzblut können wir unsere seelischen Verhärtungen und Schattenanteile sprichwörtlich wie Steine zu nährendem Brot verwandeln.
Im Waldkloster pflegen wir einen besonnen Umgang mit dem Schattenbruder. Er wird ans Lagerfeuer geholt und in Gemeinschaft konfrontiert. Wir lernen seine Sabotageakte kennen und befreien seine innewohnende Kraft und führen diese konstruktiveren Ausdrucksmöglichkeiten zu.
Guter Rat
Guter Rat ist teuer. Wir kennen alle dieses Sprichwort. Doch was ist das Wesen eines guten Rates? Wie fliesst die Gnade darin? Unser Verständnis von einem gutem Rat ist meistens lösungs- und erfolgsorientiert. Aber selbst ein lösungsorientierter, gut gemeinter Rat kann zu Folgen und Konsequenzen führen, die problematischer sind als die Ausgangslage. Ein guter Rat wird deshalb eine wie auch immer geartete Weitsicht beinhalten. Auch kann eine Entscheidung die primär unattraktiv erscheint - wie zum Beispiel auf ein vermeintliches Recht zu verzichten - sich langfristig als fruchtbar erweisen. Die Gnade des gute Rates ist auf das grosse Ganze ausgerichtet. Darüber hinaus verbindet sie Herz und Verstand. Mag eine Entscheidung für das Ich ein Opfer bedeuten, kann es aber für die Seele der nächsten notwendige Entwicklungschritt sein.
Der Gnade innewohnend liegt die Macht, eine Wahl zu treffen. Diese Wahl ist weniger mit äusseren Entscheidungen verbunden als vielmehr mit der Wahl einer inneren Einstellung zu einer Sache.
Dieser Macht innewohnende Freiraum und die Selbstwirksamkeit, zu jedem Zeitpunkt des Lebens eine Wahl treffen zu können, setzt einen Prozess des Erwachens in Gang. Mit dem Erwachen nähert man sich dem Paradox des Göttlichen an. Ein erwachter Wille hat Kapazität und gleichzeitig erkennt er doch, dass er nie im Stande sein wird ist, den ganzen Kosmos zu erfassen. Ein erwachter Wille wird einen guten Rat immer auch als Bitte formulieren, weil es darum geht, eine Verbindung zwischen Himmel und Erde zu erschaffen. Das kann nur in Abstimmung mit den kosmischen Gesetzmässigkeiten geschehen.
Im Waldkloster verhelfen wir uns, sich dieser inneren Wahlmöglichkeit bewusst zu werden.
Erkenntnis
Erkenntnis ist ein Wissen, das über das Persönliche hinausgeht. Ihr liegen nicht lineare Denkprozesse zugrunde, sondern es ist ein gesamtheitliches Erfassen und Verstehen von Begebenheiten und Zusammenhängen. Sie wirkt auf unseren Verstand, wie ein riesengrosses Scheunentor, das geöffnet wird und uns in eine grössere Welt hinaustreten lässt.
Wir beginnen zum Beispiel zu verstehen, dass wir unsere Mitmenschen - Freunde, Partner, Kollegen - als Statisten in unser ganz persönliches Drama, in unsere Träume und Wünsche einbauen.
Erkenntnis strömt in uns ein wie in ein Gefäss. Dazu ist es notwendig sich selbst als Gefäss zu leeren, was bedeutet, Prozesse von De-Identifikation zur durchlaufen - sich von Selbstannahmen, aber auch von persönlichen, religiösen, familiären Mythen zu lösen. Gerade dieses Prozesse brauchen eine genaue Sprache und Reflexion. Diese zu üben ist Praxis des Waldklosters. Gefäss stark genug.
Ist das Wesen eines Menschen gereift, fähig zu Bescheidenheit, Stille und Demut, dann verbindet sich das Einströmen der Erkenntnis ganz organisch mit dem Intellekt. Den Intellekt an die Hand nehmen. Die Bedeutung der Welt hierbei wird eine andere, da die Wahrnehmung der Welt ist um subtilere Ebenen erweitert. Es ist wie das Erlernen einer zusätzlichen Sprache, die Türen für neue Erfahrungen eröffnet.
Weisheit
Wenn die Gnade der Weisheit in uns einströmt, beginnen wir uns anders zu begreifen und damit verbunden ändert sich unsere Beziehung zum Leben. In dieser Bewusstheit ist nicht mehr: Ich hier und dort die Welt, es ist: Ich in und mit der Welt.
Mit dieser Wahrnehmung wird es weniger darum gehen, was das Ich in der Welt erreicht hat oder nicht erreicht hat. Sondern vielmehr, wie das Ich in die Welt hineingebracht und gewidmet werden kann. Hier werden wir selbst zum Gebet und treten in ein intimes Feld mit der göttlichen Lebendigkeit. Unsere Lebensrealität wird Gott und wir spüren ihn in unseren Muskeln und Gebeinen.
Im Waldkloster schenken wir uns laufend, bringen unser Ich in Gemeinschaft, reflektieren, in welchen Bereichen des Lebens wir von Gnaden beschenkt wurden.